Wie Spin-offs aus der Forschung auch in Krisenzeiten Chancen realisieren
Kaum hat sich Europa aus dem Würgegriff der Pandemie gelöst und sich aus dem Modus der Krisenbekämpfung wieder auf den Weg der ökonomischen Genesung begeben, holt uns seit Anfang dieses Jahres eine neue systemische Herausforderung ein. Der Krieg in der Ukraine bringt unser Sozial- und Wirtschaftssystem wieder an seine Belastungsgrenzen und macht natürlich auch vor der Forschung und den Ausgründungen der Fraunhofer-Gesellschaft nicht Halt. Doch gerade in kritischen Zeiten ergeben sich auch Innovationschancen und neue Nischen für Spitzentechnologie aus der Wissenschaft – und der Rückblick auf die vergangenen 12 Monate zeigt, dass Unternehmergeist bei Gründern, Gründerinnen und ihren Unterstützern innerhalb der Fraunhofer-Gesellschaft gerade jetzt Lösungen für die neuen Herausforderungen der Zeitenwende hervorbringen kann.
Unsicherheit managen: Das Venture-Team als Partner bei Krisen und Chancen
Die globalen Verwerfungen durch den Ukraine-Krieg haben die finanziellen Rahmenbedingungen für junge Gründerinnen und Gründer drastisch geändert. Inflation und sprunghafte Preissteigerungen erschüttern auch die Finanzpläne vieler Start-ups und hebeln Kostenstrukturen aus, die noch vor kurzem als valide Geschäftsgrundlage galten. Auch der Charakter unserer Gespräche mit Investoren änderte sich mit dem volatilen und schwer berechenbaren Umfeld.
Nachverhandlungen mit Investoren oder Partnern in der Industrie lösten vielfach die klassischen Finanzierungsrunden ab. Komplexität und Aufwand stiegen für unsere Gründerteams um ein Vielfaches und forderten von unseren Investment-Managern und Juristen situatives, hoch-agiles Management. Mit teilweise spontanen, kreativen Lösungen und unermüdlichen Netzwerke in unserem Partner-Ökosystem mussten Schwankungen und Belastungen für unsere Gründerteams ausgeglichen werden.
Umso erfreulicher ist, dass wir am Ende eines intensiven und wechselvollen Jahres die finanzielle Kontinuität und Planbarkeit für alle Ausgründungen in nahezu jeder Hinsicht gewährleisten können. Wir werden auch für das kommende Jahr vielversprechende Ausgründungen aus den Instituten, in Zusammenspiel der verschiedenen Experten in der Zentrale und dem Transferförderprogramm AHEAD-verkünden können.
Für 2022 erwarten wir keinen erneuten Rekordwert wie in den vergangenen Jahren, werden aber eine andere »Tradition« fortsetzen: Start-ups auf Basis von Fraunhofer-Technologie und bewährtem Ausgründungs-Know-how erweisen sich auch im dritten Krisenjahr generell als deutlich stabiler und resilienter, verglichen mit anderen Start-up-Segmenten.
Viele Fraunhofer-Spin-offs entwickeln Technologien für transformative Veränderungen in nahezu allen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen. Gerade in Zeiten des Umbruchs – in einer Zeitenwende – könnten sich diese strukturverändernden Geschäftskonzepte als Startvorteil für die Zukunft erweisen.
Krisensituationen als Technologie- und Gründungschance
Eine der wichtigsten Energiequellen in unserem Land wird in der öffentlichen Debatte zur Energieversorgung bislang (noch) kaum thematisiert: Intelligenteres, flexibleres Energiemanagement, das regionale Bedingungen und Besonderheiten einbezieht, reduziert nicht nur den Energieverbrauch drastisch – ohne persönlichen Verzicht und Firmenschließungen - sondern erschließt auch die bislang schlummernden Potenziale vor Ort. Das Fraunhofer Spin-off Ampeers Energy ermöglicht eine klimaneutrale und profitable Energieversorgung von Gebäuden. Mit seinen Software-Lösungen und der Einbindung von Service-Partnern senkt die Ausgründung des Fraunhofer IOSB CO2-Emissionen um bis zu 90 Prozent. Der bahnbrechende Erfolg des 2019 ausgegründeten Start-ups bei Investoren, Kunden und namhaften Partnern zeigt nicht nur auf, welches wirtschaftliche Potenzial Technologie und Gründergeist aus der Forschung entfalten können. Junge Tech-Unternehmen wie Ampeers Energy stehen auch für einen durch die Krise sprunghaft gestiegenen Marktbedarf nach neuen, intelligenten Versorgungslösungen – und damit für eine Vielzahl von Chancen, die der Transformationsdruck auf das bestehende Energiesystem für High-Tech aus dem Hause Fraunhofer bietet.
High-Tech als Lösung für Transformationsherausforderungen
Immer mehr große Unternehmen erkennen, dass ihnen High-Tech aus der Forschung Innovationssprünge ermöglichen kann. Zum Jahreswechsel stieg beispielsweise die international agierende Reliance New Energy Solar Ltd als strategischer Investor bei dem Fraunhofer Spin-off NexWafe GmbH ein. NexWafe entwickelt ein bahnbrechendes, neues Verfahren für die Herstellung von Silizium-Wafern und wurde dafür vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Fraunhofer Gründerpreis. Mit der Kerfless-Wafer-Technologie, die am Fraunhofer ISE entwickelt wurde, können die zentralen Bestandteile von Photovoltaik-Modulen mit einem Bruchteil des bisher notwendigen Energie-, Material- und Kapitalaufwands hergestellt werden. Reliance New Energy gehört zu der nach Marktkapitalisierung größten indischen Unternehmensgruppe. Dieses Investment markiert eine mehrfache Zäsur für Fraunhofer-Ausgründungen: Die Technologie von NexWafe verändert die Kostenstruktur der Produktion von Solarmodulen grundlegend und ermöglicht damit nicht nur die Erschließung neuer Märkte weltweit. Sie schafft die Basis für vielfältige neue Geschäftsmodelle und Skalierungsmöglichkeiten für die Solarenergie.
Ampeers und NexWafe stehen mit ihren Pionierlösungen für eine Vielzahl junger Tech-Unternehmen. Gemeinsam zeigen sie, dass Fraunhofer-Technologie Hebelwirkung für die Transformation unserer Energiesysteme entfalten kann.
Exits: Gründergeist und Forschungskompetenz als Investment-Motor
Im vergangenen Jahr konnten Fraunhofer-Ausgründungen Finanzierungsrunden in beträchtlicher Höhe abschließen. Bei den Beteiligungen der Fraunhofer-Gesellschaft können wir einen neuen Höchstwert vermelden: Nie zuvor wurden vergleichbar viele Beteiligungen ganz oder teilweise verkauft. Auch wenn wir wegen laufender Verfahren noch keinen absoluten Wert verkünden können, wird die Zahl der Exits in diesem Jahr einen neuen Rekord in der Geschichte der Fraunhofer-Ausgründungen markieren.
Beteiligungen der Fraunhofer-Gesellschaft sind strategieorientiert- nicht exit-getrieben – aber gerade der Fokus auf unternehmerische Wirkung und Skalierbarkeit von Technologie am Markt scheint für Investoren ein Qualitätsmerkmal von Fraunhofer-Ausgründungen zu sein, wie zwei aktuelle Exits zeigen:
Im April dieses Jahres übernahm die Bosch Sensortec GmbH Arioso Systems, eine Ausgründung des Fraunhofer IPMS, und sicherte sich so einen Kompetenzvorsprung im Bereich mikro-elektro-mechanische Systeme.
Im gleichen Monat erwarb Fagron, ein weltweit führendes Unternehmen im Bereich der personalisierten Medizin, eine Mehrheitsbeteiligung am Fraunhofer Spin-off HiperScan, dem deutschen Marktführer für zuverlässige Rohstoffidentifikation in Apotheken. Die Ausgründung, ebenfalls aus dem Fraunhofer IPMS schafft mit der Übernahme weltweit neue Möglichkeiten im Bereich der personalisierten Medizin.
Keine Übernahme und kein Investment gleicht dem anderen. Doch bei allen Unterschieden zeigt sich ein gemeinsames Grundmuster: Forschung und Technologie von Fraunhofer Spin-offs können für Unternehmen eine Hebelwirkung entfalten, neue Märkte erschließen oder zum entscheidenden Vorsprung im bestehenden Geschäft werden. Umgekehrt skalieren Ausgründungen das IP der Institute und können zu kontinuierlichen Partnerschaften und Einnahmequellen werden.
Der Trend zu stärkerer Skalierung und Wirkung in der Industrie wird sich nach heutigem Ermessen und dem wachsenden Portfolio von Fraunhofer Venture auch in den kommenden Jahren weiter fortsetzen.
Auch für uns im Team von Fraunhofer Venture haben die Druckwellen der Krise in diesem Jahr neue Chancen eröffnet: Die Lösungen, die wir teils notgedrungen für Institute und Start-ups entwickeln mussten, haben unser eigenes Kompetenzportfolio noch einmal erweitert und unsere Möglichkeiten vervielfältigt. Unsere Erfahrungen bei Exits, Joint Ventures, unser erfolgreiches Fraunhofer Venture CoLab für Kooperationen mit externen Start-ups und Vieles mehr werden Ausgründungen in Zukunft effektiver und schneller machen, weil wir trotz hoher Standardisierung »maßgeschneiderte« Lösungen für jede Situation anbieten können.
Technologie und Wissen werden gerne als die entscheidenden Rohstoffe unseres Landes bezeichnet. Sie sind aber mehr als das. Wir sollten sie als Energiequelle sehen: als Schubkraft zur Bewältigung der transformativen Herausforderungen unserer Zeit – zum Beispiel mit Ausgründungen - und damit als Gestaltungschance für unsere Zukunft.