»WIR HABEN UNSEREN VERTRIEB IN WENIGEN TAGEN UM 180° GEDREHT«
Ein Fraunhofer-Spin-off in den Fängen der Corona-Pandemie? Vor über zehn Jahren ist das mittelständische Unternehmen cosee GmbH für digitale Produktentwicklung im Cloud-Umfeld als eine Ausgründung aus dem Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie (SIT) entstanden, besteht aus einem Team von mittlerweile über 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und setzt aktuell mit der SPIEL.digital eine virtuelle Messe für die weltgrößte Brettspielmesse um. Schnörkellose Software, cross-funktionale Teams und eine Unternehmenskultur, die auf Feedback, Augenhöhe und Ehrlichkeit baut, sind die Erfolgsfaktoren des Unternehmens. Wir haben mit Konstantin Diener, CTO bei cosee, über die Auswirkungen des Lockdowns, Unsicherheiten und die Bewältigung einer Schieflage gesprochen.
Welche unmittelbaren Auswirkungen hatte die Corona-Pandemie und der Lockdown auf euer Unternehmen?
Tatsächlich spürten wir erste Auswirkungen schon relativ früh. Zu Beginn des Jahres sollten zwei Projekte mit großen Kunden aus dem Luftfahrtbereich starten. Da es schon im Januar und Februar einige Einschränkungen im Flugverkehr in Asien und erste deutliche Anzeichen eines Umsatzrückgangs gab, wurden diese Projekte direkt auf Eis gelegt. Wenige Wochen später waren die Projekte im Bereich Logistik an der Reihe. Hier ist das Volumen innerhalb weniger Tage im März um den Faktor zehn geschrumpft. Da wir noch ein Projekt im Kontext der Fußball-Europameisterschaft 2020 hatten, sind wir davon ausgegangen, dass dieses als nächstes dran sei. Der Kunde wollte aber glücklicherweise das Projekt zu Ende führen. Spätestens im März und April ist der Umsatz also eklatant zurückgegangen. Auch bei den internen Arbeitsabläufen hatten wir große Veränderungen: Bei cosee legen wir von jeher immer sehr viel Wert auf Kommunikation, Informationsvisualisierung an großen Whiteboards und Arbeit im Büro. Noch bevor klar war, dass die Schulen in Hessen geschlossen bleiben, haben wir allerdings entschieden, alle Mitarbeiter bis auf Weiteres im Homeoffice arbeiten zu lassen.
Welche Maßnahmen und Strategien habt ihr ergriffen, um die Existenz von cosee zu sichern?
Wir haben schon früh begonnen, alle nicht absolut dringend notwendigen Ausgaben zu reduzieren, um die Rücklagen so gut es geht zu schonen und die Liquidität zu erhalten. Zudem sind wir im April mit der Firma in Kurzarbeit gegangen. Es war uns klar, dass der Sparkurs nicht ausreichen würde und wir nicht einfach nur abwarten wollten, bis »das Unwetter vorübergezogen ist«. Deswegen haben wir im Vertrieb direkt angefangen, uns auf die Unternehmen und Organisationen zu konzentrieren, die durch die Pandemie nicht so stark betroffen waren bzw. sogar ein Wachstum zu verzeichnen hatten. Unser Vertrieb war vorher deutlich anders organisiert – vor allem auch langfristiger. Durch die veränderte Situation entstanden neue Leads nicht im Wochen- oder Monats-, sondern im Tagesrhythmus; und verschwanden auch genauso schnell wieder. All diese Umstellungen nützen nichts, wenn nicht genügend Zeit bleibt, um sie in die Tat umzusetzen. Als dritten Aspekt haben wir uns deshalb um Förderungen bemüht, um besser durch die Krise zu kommen. Darüber hinaus war es uns von Anfang an wichtig, in der gesellschaftlich schwierigen Situation unseren Beitrag zu leisten. Der erste Schritt war die Mitarbeit am Open-Source-Projekt ito, das eine Corona-App entwickeln wollte, wofür wir dann beim Hessischen Digitalministerium eine passende Wirtschaftsförderung beantragten Als sich abzeichnete, dass es für die Bundesrepublik ein Open-Source-Projekt unter der Führung von Telekom und SAP geben würde, haben wir unsere Aufmerksamkeit und das Förderprojekt auf diese App konzentriert und tun es bis heute.
Gibt oder gab es im Team Schwierigkeiten bezüglich der Motivation aufgrund von Unsicherheiten, und wie seid ihr damit umgegangen?
Der Wechsel ins Homeoffice erinnerte mich an verlassene Geisterstädte in den USA. Wir hatten zwar stabile Kommunikationsbeziehungen und eine hohe soziale Dichte in unserem Team, waren es aber nicht gewöhnt, komplett remote zu arbeiten. Diese neue Situation sorgte im Team selbstverständlich für Unsicherheiten; noch dazu, weil sie quasi über Nacht eingetreten war. Um zu verhindern, dass jeder besorgt in seiner Wohnung sitzt, erhöhten wir die Anzahl der All-Hands-Videokonferenzen deutlich und entwickelten neue Formate, wie wir unsere gewohnten Rituale im digitalen Raum leben konnten. Für zusätzliche Unsicherheit sorgten die Kurzarbeit und die Projektabsagen. Dem sind wir durch Transparenz begegnet. Wir haben die aktuelle Situation regelmäßig kommuniziert und alle Maßnahmen transparent begründet. Außerdem blieb auch in dieser Ausnahmesituation der Fokus auf Selbstorganisation und persönliche Verantwortungsübernahme erhalten. So konnten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zum Beispiel anhand von Leitlinien selbst entscheiden, zu wie viel Prozent sie in Kurzarbeit gehen. Erfolgsgeschichten aus dem Vertrieb mit den Kollegen zu teilen, half ihnen ebenfalls die Hoffnung nicht aufzugeben. Dass cosee in Form der schon erwähnten Mitarbeit an der Corona-App bereit war und ist, auch in schwierigen Situationen gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, nehmen unsere Mitarbeiter ebenfalls positiv wahr.
Konnte euer Start-up / Team neue Anstöße oder positive Erfahrungen aus der Krise mitnehmen?
Wir sind durch die Corona-Krise vor allem im Vertrieb deutlich schneller geworden, was auch nach der Krise für zusätzliche Stabilität sorgen wird. Außerdem stellen wir fest, dass die Krise als Auslöser für zahlreiche Digitalisierungsvorhaben gewirkt hat. Waren die Leads um den Jahreswechsel und im ersten Quartal noch eher Projektteams, schreiben wir seit Juni immer mehr Angebote für richtige Digitalisierungsthemen bzw. ganze digitale Produkte. Im Moment digitalisieren wir mit der SPIEL die größte Brettspielmesse der Welt.
Zusätzlich sind wir als Umsetzungs- bzw. Technologiepartner für Startups sichtbarer geworden. Mit dem Darmstädter Startup Connfair haben wir zum Beispiel eine App für die Einlasssteuerung in Supermärkten etc. entwickelt. Insgesamt glaube ich also, dass wir gestärkt aus der Krise hervorgehen und sie uns hilft, unserer Expertise in Bezug auf Digitalisierung und beim Entwickeln digitale Produkt am Markt sichtbarer zu machen. Wir sehen optimistisch in die Zukunft!
Das ist schön. Habt ihr auch Tipps für Start-ups, die jetzt womöglich in Schieflage geraten sind?
Aus meiner Sicht ist Connfair dafür ein wunderbares Beispiel. Das eigentliche Geschäftsmodell dreht sich rund um Messen, Kongresse und Konferenzen. Mit Beginn der Pandemie und dem Lockdown brachen der Firma von einem Tag auf den anderen alle Betätigungsfelder weg. Genau wie wir haben sie aber nicht den Kopf in den Sand gesteckt, sondern eines ihrer Produkte – das eigentlich für die Zutrittskontrolle auf Messen konzipiert war – modifiziert, damit es als Einlassampel für Supermärkte funktionieren kann. Der Tipp ist also: Denkt darüber nach, welche Teile eures Geschäftsmodells ihr (in modifizierter Form) in der aktuellen Situation gewinnbringend einsetzen könnt. Es reicht nicht aus, auf das Ende des Sturms zu warten – vor allem, weil die Welt danach völlig anders aussehen wird.
Und noch ein Tipp in eigener Sache (lacht). Wenn den Tech Startups die Arbeit über den Kopf wächst, ist es nichts Ehrenrühriges, sich von anderen unterstützen zu lassen. Wir helfen gerne.
Wir bedanken uns herzlich für das Interview und wünschen weiterhin viel Erfolg!
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